Lebendiger fotografieren

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Unzählige Fotos werden gemacht, und die meisten nicht einmal eine Sekunde lang betrachtet: „Schau!” – „Schön!” – … und das war’s auch schon.
Solche Fotos meine ich nicht, wenn ich von Fotografien spreche; auch die Fotografin oder der Fotograf haben keine Sekunde investiert um eines davon aufzunehmen. Wirklich hinzusehen braucht aber Zeit.
Subhash: „Pflanzenlicht #9282”

| Camera: Olympus E-5 | Focal length:  50 mm (small picture equivalent: 100 mm) | Shutter speed: 1/2000 s | Aperture: ƒ/2.8 | ISO: 200 | Taken: 1. January 2020 | Kredit: Subhash |

Schnell laufen Automatismen ab. Das müssen sie auch, dazu sind sie da. Wir brauchen Gewohnheiten um uns nicht jeden Tag jede Handlung von neuem erarbeiten zu müssen. Wir finden auch um drei Uhr früh ohne Probleme aufs WC, zumindest, wenn wir uns in der eigenen Wohnung befinden. Das geht automatisch, dafür muss man nicht einmal komplett wach sein. Das ist auch gut so. Das Problem mit Gewohnheiten ist nur, dass sie abstumpfen. Wir erleben unser Leben voller Gewohnheit nicht mehr, es läuft nur ab, und dann fragen wir uns, ob das alles gewesen ist.
Wie aber können wir willentlich eine Gewohnheit beiseite lassen und lebendig im Augenblick wahrnehmen? – Wenn wir nur beobachten was geschieht, wenn ein Verhalten vollautomatisch abläuft, dann ist der erste Schritt auch schon getan, denn zum Wesen der Gewohnheit gehört, dass sie ohne „bewusste Begleitung” vor sich geht. Ein weiterer Aspekt ist, dass automatische Wahrnehmung schnell geschieht.
Angewandt auf die Fotografie kann ein Durchbrechen der Sehgewohnheiten so aussehen:

  1. Sich Zeit lassen. Nicht schnell fotografieren. Erst einmal hinsehen und mit allen Sinnen aufnehmen, was geschieht. Das muss nichts Spektakuläres sein. Einfach aufmerksam wahrnehmen.
  2. Nicht einfach die Kamera hochreißen und abdrücken, sondern versuchen, das, was einem ins Auge gefallen ist, mit den technischen Mitteln, die wir haben – Belichtungszeit, Blende (Tiefenschärfe), Brennweite, Standort (Perspektive) –, schon bei der Aufnahme unterstützen und herausarbeiten. Das muss nicht bedeuten, dass wir uns abmühen, das kann mit nur ein wenig mehr Aufmerksamkeit als üblich leicht von der Hand gehen.
  3. Es ist nicht nötig eine Fernreise zu buchen und exotische Orte aufzusuchen, das Geheimnis liegt gerade dort, wo wir sind. Nicht neue Motive werden uns aufrütteln, sondern lebendiges Sehen. Wenden wir uns dem Alltäglichen zu!
  4. Nähern wir uns dem scheinbar so Vertrautem mit ungewöhnlichen Mitteln! Fotografieren wir eine Woche lange nur mit Offenblende oder nur mit unserem stärksten Teleobjektiv. Machen wir es einmal ganz anders als sonst! Stellen wir uns auf den Kopf (oder zumindest die Kamera), belichten wir eine Zeit lang nur über eine Sekunde (ein Graufilter wird wahrscheinlich nötig sein), machen wir nur quadratische Bilder. Fotografieren wir im Februar nur drei Bilder pro Tag, nicht mehr, nicht weniger.
  5. Ja, jede Technik, jede Methode wird mit der Zeit zur Routine, also zu dem, was wir gerade vermeiden wollen. Aber hin und wieder anders vorzugehen als uns vertraut, lässt uns aufmerksamer sein. Bis Aufmerksamkeit zur Gewohnheit wird.
  6. Wählen wir aus! Nicht alles muss fotografiert werden, nicht jede Aufnahme muss gezeigt werden. Nehmen wir uns Zeit (schon wieder!), die ausgewählten Aufnahmen auch bestmöglich auszuarbeiten (in RAW fotografieren) und bestmöglich zu präsentieren. Der Unterschied zwischen guten und schlechten Fotograf*innen besteht darin, dass die guten ihre schlechten Bildern nicht zeigen.
  7. Da wir uns für jeden Schritt (viel) mehr Zeit nehmen müssen, sollten wir auch weniger Fotos aufnehmen. Besser ein einziges gutes Bild pro Woche, als 1.000 mittelmäßige.
  8. Und: Wir müssen nichts Großartiges, Noch-nie-Dagewesenes produzieren! Das aufmerksame Sehen trägt Lohn schon in sich. Ein Bild haben andere vielleicht schon tausendmal gesehen, haben wir es aber mit Liebe und Aufmerksamkeit aufgenommen, konnten wir es in lebendiger Anschauung fotografieren, dann war es die Sache wert.

Subhash: „Wintermorgen im Wald #9654”

| Camera: Olympus E-5 | Focal length:  12 mm (small picture equivalent: 24 mm) | Shutter speed: 1/40 s | Aperture: ƒ/5 | ISO: 400 | Taken: 27. January 2020 | Kredit: Subhash |

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