Wir betrachten die Photographie, das Bild an unserer Wand, als das Objekt selbst (Mensch, Landschaft, etc.), welches auf ihr dargestellt ist.
Dies müsste nicht sein.
(Ludwig Wittgenstein)
Jede Sprache im weiteren Sinn korrumpiert, lähmt und betäubt für gewöhnlich – nicht nur die der Fotografie, für die das Susan Sontag anmerkt. Sprache macht einerseits wahrnehmbar, indem sie sozusagen Behältnisse für den doch recht undifferenzierten Energiefluss bereit hält, doch sie prägt und zensuriert damit jede Wahrnehmung und lässt diesen Umstand dann vergessen. Sie stellt die Bausteine zur Verfügung, aus denen wir Erinnerungen bauen (und ohne Erinnerung keine Wahrnehmung), diese Modellbauwelt, die wir gewöhnlich für wahr nehmen. Sind uns die Bausteine sehr vertraut und verwenden wir sie immer auf die selbe Weise, dann ist unsere Welt grau, langweilig, leblos und altbekannt. Manche Wahrnehmung ist mit mancher Sprache auch einfach gar nicht möglich. Aber ebenso wie es Menschen gibt, die sich und Andere mit Hilfe von Worten aus der Betäubung heraussingen können, gibt es Überwinder*innen der Stumpfheit auf jedem Gebiet des „Hantierens mit Symbolen” (was „Sprache” letztlich bedeutet). Das sind Künstler*innen, die erst an die Grenzen gehen, an die Absperrungen, und dann darüber hinaus.
Kein*e Sprechende*r kann einfach beschließen, die einmal erlernte Sprache wieder abzulegen. Und man muss nicht fotografieren um der fotografischen Sprache nicht mehr entkommen zu können. Transzendenz ist nur durch Durchdringung möglich: „Der Weg hinaus ist der Weg hindurch.” So wie man im Traum etwa durch das Brüllen eines Traum-Löwen geweckt werden kann, kann man durch eine Fotografie über das Abbild hinaus blickend jenseits gelangen. (Ich selbst versuche das unter anderem durch abstrakte Fotografien anzustoßen.)
Fotografieren heißt nicht Bedeutung verleihen, wie Susan Sontag meint („Amerika im düstern Spiegel der Fotografie” in „Über Fotografie”), sondern die Bereitschaft, (die vielleicht soeben erst offenbarte) Bedeutung zu akzeptieren und zu untersuchen. Denn das Motiv muss der Fotografin bedeutsam erscheinen, sonst wird es erst gar nicht fotografiert. Das sagt nichts gegen die Vorstellung, dass Bedeutung konstruiert wird, nur wird sie eben nicht durch den Akt des Fotografierens konstruiert, sondern zumindest für den Fotografen schon davor. An der schnell vorübergehenden und auch nur vorgeblichen Bedeutsamkeit so vieler Fotografien zeigt sich der zum Misslingen verdammte Versuch, Bedeutung willentlich zu konstruieren.
«Pormelado #3112»
Fotografie kann erreichen,
… anderen die lebendige Welt, die sie umgibt, zu offenbaren, ihnen zu zeigen, was ihren eigenen, mit Blindheit geschlagenen Augen bis dahin verborgen geblieben ist …
(Edward Weston)
und auch das ist schon eine gewisse Form der Transzendenz, des Überschreitens des Bekannten. Doch der Fotograf bzw. die Fotografin kann sich alleine auf diese Methode gestellt nicht aufmachen, seine eigene Welt zu erweitern. Dazu bedarf es der Kunst.
Fotografie per se ist genauso wenig Kunst, wie Malerei von sich aus nicht Kunst ist. Beides ist zunächst einmal Handwerk, Instrument der Energieübertragung. Dieses kann gut oder schlecht ausgeführt werden, und beides hat zunächst einmal nichts mit Kunst zu tun. Handwerkliches Können mag beeindruckend sein und ehrenwert, aber es ist nicht Kunst. Kunst ist nicht Können. Kunst ist Überschreitung, Überwindung, Eroberung der Freiheit, Empfangen von neuen Möglichkeiten, Ausbruch aus der Schutzhaft des Bekannten, Anrufung des Anderen.
Fotografie ist ein Medium, von dem man sich heutzutage bloßes Bewegen innerhalb von Konzepten erwartet; man traut ihr nicht zu, das wahrnehmbar zu machen, was es bisher noch nicht gibt, nicht einmal in der Vorstellung. (Man traut ihr also keine wahre Kreativität zu.) Gelingt ihr dies aber doch, so ist die Überraschung umso größer. Und ist es nicht so, dass wir überrumpelt werden müssen, das Unbekannte nicht herbeidenken können, Befreiendes „von außen” kommen muss?
Gerade weil Fotografie durch Dokumentaristen zum bloßen Abbildungsmittel reduziert worden ist, ist Transzendenz mittels dieses Mediums so wirksam. Das Überschreiten der Grenzen der Erfahrung kann man zwar beabsichtigen, wünschen, erhoffen, doch planen kann man’s nicht. Es kommt immer unverhofft und nie so, wie wir uns das vorgestellt haben. (Sonst wäre es auch kein Überschreiten der Vorstellung, die ja schließlich auch zum Erfahrbaren gehört.) Den Grenzzaun kann man niederreißen, aber überschreiten muss ihn doch jede*r selbst.
«Encriptación»
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