Oder: Wenn die Schönheit auf der Straße liegt
Es sind die Geschichten aus denen Legenden entstehen, vom Leben besser geschrieben als es jede Autorin und jeder Autor könnte. Ein Sammler kauft auf einer Auktion einige Kisten samt Inhalt und entdeckt darin zehntausende nicht ausgearbeitete Fotonegative. Diese wiederrum entpuppen sich bald als das Oevre einer der begabtesten – bisher allerdings völlig unbekannten – Photographin der sogenannten „Street Photography”. Die Schöpferin dieser Bilder arbeitete zu Lebzeiten als Kindermädchen und verarmte im Alter völlig. Ihre in der Qualität mit Diane Arbus oder Weegee vergleichbaren Arbeiten hat sie nie auch nur im kleinen Rahmen ausgestellt oder veröffentlicht. Sie stirbt ohne von der Fachwelt beachtet worden zu sein 2009, kurz nach der „Entdeckung” der Arbeiten durch einen zunächst ahnungslosen Immobilienmarkler. In den folgenden Monaten wird das Werk von Vivian Maier posthum auf der ganzen Welt berühmt.
Den Aufnahmen von Maier 1) sieht man an, dass sie im Alltag und auf gleicher Augenhöhe mit den abgebildeten Personen gemacht wurden. Dies verleiht ihnen eine ganz besondere Qualität, welche sie von anderen Fotografien – auch zu Lebzeiten berühmter FotografInnen – unterscheidet. Hat man doch den Eindruck hier nicht naiv, aber doch sehr authentisch Einblick in den Alltag etwa ins New York der 1950er Jahre zu bekommen. Das zeigt sich sehr schön an der virtuos komponierten unbetitelten Strassenszene 2) welche sie 1953 – wohl von einer New Yorker Stadtbahnstation aus – gemacht hat. Oder aber an dem im Folgejahr (?) entstandenen Bild, das fünf Kinder vor einem Grocery-Store zeigt. 3) Besonders gelungen ist bei dieser Aufnahme, dass die kleinen Mädchen (angesichts der Kamera) ein Lächeln aufsetzen, das die Models der hinter ihnen im Schaufenster stehenden Zigarettenwerbung zu zitieren scheint. In Maiers Werk sind Dinge und Menschen in einer Weise gezeigt, die weder Sensationslust noch ästhetizistische Komponiertheit, sondern schlicht die Schönheit und Vielfalt des (alltäglichen) Lebens widerspiegelt.
Bedenkt man, dass vor dem Tod Vivian Maiers – im Verhältnis zu ihrem immensen Oevre – kaum Abzüge ihrer Photos existierten und sie lange keine eigene Dunkelkammer besaß, beeindruckt die Qualität der Aufnahmen besonders, gab es doch vor der Verbreitung der digitalen Photographie keine anderen Möglichkeiten die gemachten Bilder unverfälscht zu betrachten oder sie gar zu bearbeiten. Da ihre Biographie leider zumindest bisher über weite Strecken unerforscht ist, lässt sich nicht sagen ob und wenn wie diese erstklassige Photographin versucht hat auch als solche wahrgenommen zu werden, dass Sie aber trotz des enormen Talents nicht zu Lebzeiten entdeckt wurde, zeigt wie sehr ein selbstgefälliges System, welches von wohlhabenden Männern und ihren Taten, nicht aber von sozialistischen Kindermädchen erzählt, oft an der Schönheit und jenen, die sie vermitteln können, vorbei agiert.
Wolfgang Pichler (neuekunst.at) schreibt regelmäßig für das artmagazine.
1) Die Website des Käufers Ihres Werkes: vivianmaier.com ↑
2) Vivian Maier: „Straßenszene 1953” ↑
3) Vivian Maier: 5 Kinder vor einem Grocery-Store Anmerkung Mai 2014: Dieses Bild konnte leider auf der Vivian-Maier-Website nicht mehr gefunden werden. ↑
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