Wir sitzen ja nicht nur auf Universitaeten und hoeren Vortraege, wir machen auch Exkursionen. Zwei, laut Reisefuehrer, No-go-Viertel haben wir besucht. (Auch die hiesige Standard-Journalistin berichtet davon, wie uns erzaehlt wurde, dass aus diesen Vierteln noch nie Europaeer lebend herausgekommen sind. Nun, dann sind wir die ersten bis auf unseren Fuehrer Dr. Cwik, der allem Anschein nach auch schon frueher einmal hier war. 😉
Die so genannten barrios sind bereits in den spaeten 50er-Jahren entstanden, so weit ich mich erinnere, und sind Heimat fuer Millionen von Venezolanern und Venezolanerinnen. Vor Chávez waren diese Viertel auf Landkarten nicht eingetragen und wurden weitgehend ignoriert, zumindest so lange, so lange es zu keinem Aufstand kam, wie dem beruechtigten Caracazo 1989, bei dem 3.000 bis 4.000 Leute ermordet wurden. Diese Toten kamen zum allergroessten Teil nicht direkt waehrend des Aufstandes um, sondern bei “Saeuberungen” danach.
Im barrio “23 de Enero/La Cañara” besuchten wir eine Art Geme¡ndezentrum, die “Coordinadora Simón Bolívar“, bei dem gerade Lebensmittel (Milchpulver und Gefrierhuehner) ausgegeben wurden. Die Coordinadora Simón Bolívar benutzt ein Gebäude einer ehemaligen Polizeistation der Metropolitana zur Überwachung und Folter. Laut unserer Kontaktperson wurden dort 100 Leute aus dem 23 de Enero ermordet. Im Jahr 2500 wurden die Polizisten von BewohnerInnen der Umgebung vertrieben und das Gemeindezentrum eingerichtet. In diesem Fall hat man sich guetlich geeinigt, und es kam bei dieser Vertreibung zu keinen Toten oder Verletzten.
In diesem Moment spielt das Internetcafé, in dem ich schreibe, John Lennons “Imagine”:
“Imagine no possessions
I wonder if you can
No need for greed or hunger
A brotherhood of man
Imagine all the people
Sharing all the world”
Auf dem ehemaligen Parkplatz der Polizeistation befindet sich nun ein grosses Infocenter mit 124 Computern (Linux-Debian). Es handelt sich um ein Projekt der mision ciencia und zwar um den flächendeckenden Versuch einer elektronischen Alphabetisierung. Das Infocenter ist geöffnet von 8 – 20 Uhr und fuer die Benutzer und Benutzerinnen kostenlos. (Nur das Chaten ist limitiert außer man hat Verwandte im Ausland, und es ist die einzig mögliche Form der Kommunikation.) Der jüngste Benutzer ist 7, der älteste 86 Jahre alt. Naeheres: www.infocentros.gob.ve
Im Haus “Freddy Parra” (Historiker, Angestellter der PdVSA, der Erdölgesellschaft, promovierte mit einer Arbeit über die Möglichkeit privater Anschlüsse ans Gasnetz) finden beispielsweise unter anderem Kurse der Mision Robinson statt (Alphabetisierung), der Mision Ribas (Maturaabschluss) und der Mision PDVAL (Produktion und Vertrieb von Lebensmitteln). Wir konnten kurz mit ein paar Teilnehmern eines Kurses der Mision Robinson sprechen, fuer den die Lehrmaterialien alle aus Cuba stammen. Weiters gibt es Angebote für Salsa, Boxen und ein Fußballteam. Die Behandlung von Haustieren (abgesehen von Impfungen) findet dort kostenlos statt. Im Haus “Freddy Parra” gibt es ausserdem einen Radiosender “El somidu de 23” (“Die Stimme von veintitrés”), der auf FM 94,7 caracasweit sendet. Eine Zeitung mit 10.000 Stück Auflage wird herausgegeben, eine Website betrieben. Die Coordinadora Simón Bolívar ist national und international vernetzt.
Zwei Wohnblocks und eine Bibliothek besuchten wir anschliessend. Ursprünglich waren die 42 kleinen und 55 großen Blöcke des 23 de Enero für etwa 60.000 Personen vorgesehen.
***
Im barrio “Propatria/Catia” hatten wir Gelegenheit einen Funktionaer der neu gegruendeten Sozialistischen Einheitspartei und einen ehemaligen Stadtguerillero zu hoeren. Wir bekamen ein vorzuegliches Pabellon Criollo; nochmals besten Dank an die begabten KoechInnen!
Ein Besuch bei einer medizinischen Versorgungseinrichtung folgte. In diesen Einrichtungen arbeiten noch hauptsaechlich Aerztinnen und Aerzte aus Cuba. Venezuela bezahlt fuer diese Hilfe mit Erdoel. Auch hier folgte wieder eine Begehung eines der grossen Wohnblocks und wir hatten wieder Gelegenheit aufs Dach zu gehen, was fuer Leute mit Hoehenangst, so wie ich, eine gewisse Herausforderung darstellt.
Bilder aus den Barrios findet man hier.
(Zuletzt geändert am 25.10.'10 um 8:51)
Am 15. Februar 2008 um 02:00 Uhr
Hi Subhash!
Vielen Dank für die Beschreibung deiner Reise. Auf Grund meiner persönlichen Verbindung zu Lateinamerika interessiere ich mich sehr für deine Berichte. Eine Detail, dass mir ein wenig abgeht, ist allerdings die Meinung der Personen mit denen ihr gesprochen habt. Du hast erwähnt, dass ihr die Gelegenheit hattet euch mit mehreren Personen in unterschiedlichen Lebenslagen zu unterhalten. Mich würde interessieren, was diese Personen zu sagen habe. Welche Verbesserungen haben sie in den letzten Jahren gesehen? Welche Probleme haben sie? Wie stehen sie zur Regierung? Wie sehen sie ihr Land in der internationalen Gemeinschaft? und ähnliche Fragen…
Eine interessante und sichere Reise noch,
Hannes
Am 15. Februar 2008 um 09:33 Uhr
weiter so!
Am 15. Februar 2008 um 19:30 Uhr
Schöne Bilder, Subhash.
Viel Spaß weiterhin
Revoluzzion !! (oder wie das ding heißt 😉 )
Tobias
Am 15. Februar 2008 um 23:00 Uhr
Hallo Subhash,
macht total Spaß dich/euch auf der Reise (virtuell) zu begleiten 🙂
Weiterhin viel Freude.
Brigitte
Am 17. Februar 2008 um 01:06 Uhr
Lieber Hannes!
Ich verstehe deine Fragen und dein Interesse natürlich sehr gut. Das Problem ist, dass mein Programm hier sehr dicht ist und ich meine Berichte eher unter Druck oder ungünstigen Umständen verfasse. Oft ist es schon ein Uhr früh oder noch später, wenn ich Schluss mache und spätestens um sieben geht’s schon wieder los. Die Internetcafés haben dummerweise am Abend geschlossen, und so versuche ich Fotos vorher auszuwählen und Texte am Laptop zu verfassen und in kurzen Internetcafé-Pausen unter Tags ins Blog zu kopieren. Aber auch das braucht relativ viel Zeit.
Jetzt gerade sitze ich in einem Reisbuss, es ist Nacht, der Bus – obwohl sehr komfortabel – schaukelt hin und her und so vertippe ich mich immer wieder, während ich diese Antwort auf meinem alten Apple-iBook schreibe. Immerhin spielt gleichzeitig Patti Smith ihre Coverversionen berühmter Rock-Songs (“12”) in meine Kopfhörer. Grade ist “Graceland” von Paul Simon dran. Wir sind auf der Reise von Caracas nach Trujillo.
Leider habe ich wirklich nicht die Zeit, genauere Erzählungen abzufassen, aber ich werde das sicherlich nachholen, spätestens nach meiner Rückkehr.
Was deine Frage nach den persönlichen Einschätzungen der Venezolanerinnen und Venezolaner betrifft, versuche ich eine Sammelantwort:
Natürlich ist ihr Erlebnis subjektiv und hängt von der persönlichen Geschichte der Person ab, von ihrem Wissens, ihrem sozialen Stand und anderen Umständen. Das gilt ebenso für Akademikerinnen, wie für Künstler, Poltiker, Diplomatinnen, Exguerilleros, Medizinerinnen, Bibliothekarinnen oder Banker, um einige unserer “Informanten” zu nennen. Die Österreichische Botschafterin äußert sich wohltemperiert skeptisch bis wohlwollend zu Chávez Politik, ein Banker begeistert über die ALBA, die Universitätsprofessoren der Universidad Bolivariana de Venezuela (UBV) naturgemäß positiv, optimistisch und genauso motiviert wie sachkundig. Die Niederlage der Ablehnung des Referendums vom Dezember wird eingestanden und recht verschieden analysiert. Chávistas vermuten ein viel zu schnelles Vorgehen und eine taktisch äußerst unkluge Wahl des Zeitpunktes. Die neue sozialistische Einheitspartei ist ja erst im Aufbau begriffen. Es wurde auch mehrmals berichtet, dass die Eigentumsfrage ein wichtiger Punkt war. Die Leute glaubten zum Teil (bzw. die Opposition behauptete), dass sogar die Häuser in den Barrios, den Armenvierteln, verstaatlicht werden sollten, was natürlich kompletter Unsinn ist. Weiters sei die Reform zu weit links gewesen und wegten der angestrebten Einführung der unbegrenzten Wiederwahl des Präsidenten eine Diktatur befürchtet worden.
Die Versorgungsschwierigkeiten (Milch, Eier, …) sind eher merkwürdig. Während die einen mutmaßen, dass möglicherweise Chávez eine künstliche Krise erzeugt um als Phönix aus der Asche mit tollem Wirtschasftswachstum wieder erstehen zu können, halten andere die Versorgungs”krise” (ist ja eher noch? ein Kriserl) für ein weiteres Element langjähriger reaktionärer Attaken der beiden großen Lebensmittel-Versorgungskonzerne “Polar” und “Mavesa” um die Regierung schlecht dastehen zu lassen. Interessanterweise glaubt (wissen ist niemandem möglich) gerade der Historiker Dr. Thomas Straka von der eher oppositionell eingestellten, katholisch-jesuitischen Universität UCAB an keine dieser beiden Theorien, sondern meint, es handle sich einfach um eine ererbte Schwäche der Wirtschaftsstruktur, die durch den Erdölboom andere Wirtschaftsbereiche und vor allem die Landwirtschaft schon lange vor Chávez vernachlässigt hat. Zusätzlich sei der Konsum stark gestiegen, worauf die Wirtschaft nicht adäquat reagieren kann. Mag. Nestor Colón von der Bank für Außenhandel hat berichtet, dass 1999 (erstes Regierungsjahr von Chávez) noch 80% der Lebensmittel importiert wurden und zur Zeit (bei gestiegenem Konsum) “nur” noch 60%.
Luis Britto Garcia
Wir hatten auch die Ehre und das Vergnügen mit Luis Britto Garcia, dem berühmtesten lebenden Schriftsteller Venezuelas, Abend zu essen. Er war einer der dreizehn Intellektuellen, die die ersten Punkte für die Verfassungsreform ausarbeiteten und hält die Versorgungskrise für einen weiteren Angriff der Oligarchie nach Putschversuch, Erdöl„streik”, Abwahlreferendum und Währungsattaken (Parallelkurs). Auf meine Frage, was man in Europa tun könnte oder müsste um den ungebremsten Vormarsch des Neoliberalismus einzudämmen (siehe unter anderem die beiden EU-Verfassungsentwürfe), meint er, vor allem sei es wichtig, die Bedeutung von Arbeit hin zu einer kreativen Lebensäußerung zu verändern.
Luis Britto Garcia war bisher der einzige, der auf bevorstehende Rohstoffkriege um Öl und Wasser hinwies und die Notwendigkeit der Beendigung der Energieverschwendung betonte.
Die kubanische Zahnärztin, die wir befragen konnten, wurde von skeptischen Exkursionsteilnehmern mit den üblichen Gerüchten und Vorwürfen konfrontiert. Sie antwortete, es kämen nur ausgebildete Ärztinnen und Ärzte, keine medizinisch-technischen Fachkräfte oder Krankenschwestern, sie kämen freiwillig und gerne, sie selbst sei schon bald vier Jahre hier.