Es mangelt uns weder an Möglichkeiten,
noch an Geld, sondern an offenem Denken
Manchmal sind es enttäuschende Niederlagen, die die Grundlage für große Erfoge bilden. Ein Fernsehauftritt von einer knappen Minute machte einen kleinen Fallschirmjäger-Oberstleutnant zur Hoffnung der Armen. Als führender Kopf eines Putschversuches musste er im Februar 1992 seine Kameraden dazu aufrufen, den Versuch “por ahora” („vorerst”) zu beenden und die Waffen niederzulegen. Er übernahm die Verantwortung für den gescheiterten Staatsstreich und das war nun wirklich niemand gewohnt: Jemand, der zu seiner Überzeugung steht, auch wenn es ihm große Nachteile einzubringen scheint. Auch das “Por ahora” bewies Rückgrat. Der junge Militär stand damit öffentlich weiter zu seiner Überzeugung, dass die krasse Armut beseitigt werden muss, die im Februar 1989 zum caracazo, dem gewaltigen Volkssaufstand in Venezuela geführt hatte, einer Reaktion auf die neoliberalen Sparmaßnahmen, die der Internationale Währungsfond gefordert hatte und dessen Unterdrückung auf Befehl des Sozialdemokraten Carlos Andréz Péres laut Angaben der damaligen Regierung 399, nach unabhängigen Quellen an die 4.000 Menschen das Leben gekostet hatte. Die Zelle des ehemaligen Oberstleutnant wurde zum Wallfahrtsort, da half auch die Verlegung in ein anderes Gefängnis nichts. Knappe sieben Jahre später wurde der inzwischen begnadigte Putschist Hugo Rafael Chávez Frías mit absoluter Mehrheit zum Präsidenten Venezuelas gewählt.
2 Millionen Menschen buchstäblich eine Stimme zu geben, war eine der ersten Aktionen der so genannten “Bolivarischen Revolution”. Die Misión Identidad verschaffte denen Papiere, die keine hatten, und damit nicht nur vom öffentlichen Verkehr und dem Schulbesuch, sondern auch von Wahlen ausgeschlossen waren. Dieses Wahrnehmen der Armen, die grundlegendste Form von Respekt, ist etwas, das Chávez hoch angerechnet wird, worauf ich im Zuge einer Reise im Februar 2008 immer wieder aufmerksam gemacht wurde. Der “Plan Bolívar 2000” setzte Militär und zivile Freiwillige ein um die akutesten Hilfsmaßnahmen durchzuführen: In den ersten Jahren der Regierung Chávez konnten beispielsweise an die 2 Millionen Personen erstmals durch Trinkwasserleitungen versorgt werden. Während des caracazo hatten Soldaten auf Arme geschossen, jetzt aber halfen sie ihnen. Mercal bietet Grundnahrungsmittel zum halben Preis, was hoffentlich die Preise kapitalistischer Unternehmungen ebenfalls nicht in den Himmel wachsen lässt. Die Misión Barrio Adentro stellt kostenlose medizinische Grundversorgung für jedermann und -frau bereit. Die Misión Robinson erreichte mit der Hilfe von Kuba, dass die UNESCO im Oktober 2005 Venezuela frei von Analphabetismus erklärte.
Der Reichtum Venezuelas stammt aus dem Erdöl. Dieser Reichtum ist aber relativ zu sehen. Österreich hat ein 3-fach so hohes Bruttonationalprodukt bei nur einem Drittel der Bevölkerung und einem Elftel der Landfläche. Die Bolivarianische Revolution kostete den alten Eliten das Privileg sich auf Kosten anderer zu bereichern oder schränkten es zumindest empfindlich ein. Auch die USA und Teile Europas konnten diese Angriffe auf ungehemmten Kapitalismus nicht ohne Gegenwehr ertragen …
Widerstand findet für gewöhnlich gegen eine Regierung statt. Nicht so in Venezuela im Jahr 2002 und 2003: Dort widerstanden große Teile der Regierten den Versuchen, den gewählten Präsidenten Hugo Chávez samt Regierung zu beseitigen. Vorgetäuschte Übergriffe auf die Opposition sollten einen gewaltsamen Umsturz legitimieren. Der Präsident der Industrie- und Handelskammer hatte mit Hilfe von Teilen der Armee die Macht übernommen, aber Millionen von Menschen gingen in den nächsten beiden Tagen auf die Straße und verlangten lautstark ihren gewählten Präsidenten zurück. Der Druck des Volkes bewog die Armee sich gegen die illegitime Regierung zu stellen (die von den USA und Spanien unter Aznar schon freudig anerkannt worden war). Hugo Chávez konnte befreit werden und ging gestärkt aus dieser Auseinandersetzung hervor. Durch einen Zufall gibt es ein erstaunliches Filmdokument von diesem Putsch („The revolution will not be televised”).
Der nächste Versuch der Reichen ihre politische Macht wieder herzustellen lief über Venezuelas unselige Abhängigkeit von Erdöleinnahmen. Ein so genanter “Erdölstreik”, der weitgehend vielmehr als Ausperrung zu sehen ist, wurde inszeniert. Aber auch diesmal wehrte sich das einfache Volk gemeinsam mit der Regierung erfolgreich. Innerhalb von drei Monaten konnte die Förderung ohne die oppositionelle Managerschicht der Erdölgesellschaft PdVSA wieder aufgenommen werden, wenn auch Milliarden Dollar an Einnahmen verloren gegangen waren. Die der Arbeit fern gebliebenen Führungskräfte und Angestellten konnten rechtmäßig entlassen werden. 40% davon mussten übrigens nie ersetzt werden: Sie waren schon immer unnötig gewesen. Die Bilanz zeigte, dass auch die Produktion profitabler wurde als zuvor.
Nach diesem “Ölputsch” versuchten oppositionelle Kräfte unterstützt von den USA die Regierung durch ständige Klagen vor allen möglichen Gerichtsinstanzen zu stören und zu behindern. Der Höhepunkt dieser Angriffe folgte im Jahr 2004: Ein verfassungsmäßig vorgesehenes Abwahlreferndum gegen Chávez wurde gestartet. Aber auch daraus ging er siegreich hervor. Kein anderer regierender Präsident der Welt hat sich so oft demokratischen Wahlen gestellt wie der Venezolanische und wurde so oft bestätigt. Kein anderer hat auch nur annähernd eine so große demokratische Legitimation wie Chávez, daran ändert auch das verlorene Referendum zur Änderung der Verfassung im Dezember vergangenen Jahres nichts, die erste große Niederlage. Man beachte wie in Europa im Gegensatz dazu eine Quasi-Verfassung verordnet wird gegen den Willen großer Teile der Bevölkerung, wenn nicht sogar gegen die Mehrheit.
Wie man am Beispiel Venezuelas sehen kann, ist Widerstand möglich und kann erfolgreich sein. Dazu wäre es in Europa aber erst einmal nötig, die Herrschaft über das Denken zu brechen, die Massenmedien, Politik und Wirtschaft gemeinsam ausüben.
Die Macht über das Denken ist zugleich die Macht die jeweilige Herrschaft über Anerkennung hinaus natürlich und normal erscheinen zu lassen. Sie gibt Möglichkeiten und Alternativen vor. Dadurch besteht nicht nur die Macht, die “Tagesordnung” vorzugeben, sondern auch den Rahmen, in dem Konflikte ausgetragen werden.
Diese Macht knabbert die bloße Existenz einer Regierung wie die von Hugo Chávez an. Hier tut sich eine Alternative auf, die man schon vernichtet zu haben glaubte. Plötzlich erscheint es wieder möglich, anders zu leben als wir glauben sollen. Nicht mehr der Kampf aller gegen alle, nicht mehr das Gewinnen auf Kosten von Verlierern ist in Venezuela die verordnete Norm, sondern das gerechte Verteilen des gemeinsam geschaffenen Reichtums. Die Gewinne aus der Erdölförderung gehören nicht mehr ausländischen Ölkonzernen und wenigen Oligarchen, sondern den Venezolanerinnen und Venezolanern gemeinsam. Die misiones werden damit finanziert, günstigste Mikrokredite und leistbare Wohnungen. Die basisdemokratischen Kommunalräte bekommen 5% des Landesbudgets für ihre Projekte.
Nehmen wir uns ein Beispiel! Es kann doch nicht länger darum gehen nach Möglichkeit ebenfalls an den Gewinnen von Ausbeutung und Unterdrückung teilzuhaben, wenn man beispielsweise ein billiges T-Shirt ergattert, das unter menschenunwürdigen Bedingungen produziert wurde und trotz des unglaublich niedrigen Preises auch noch satte Gewinne für den Auftraggeber einzufahren im Stande ist, oder wenn man durch seine Pensionsvorsorge Geld bereitstellt für das verderbliche Zinssystem, das fortwährend Reiche reicher und Arme ärmer macht, nein, es geht darum, die Arbeit wenigstens im Lande, besser noch in der Region zu lassen und einander gegenseitig zu unterstützen anstatt sich selbst alleine gegen jedes Unglück abzusichern. Es geht um Gerechtigkeit und Möglichkeiten für alle. Es geht auch darum ausländische Arbeitskräfte nicht länger auszunützen, sondern sie samt den weggesperrten Asylanten wirklich aufzunehmen, sie mitgestalten zu lassen an dieser Gemeinschaft, die endlich wieder tatsächlich eine werden sollte! Arbeit gibt es genug. Geld auch, wenn wir es vernünftig und bewusst einsetzen, wie das nun in Venezuela seit bald 10 Jahren entgegen den fortgesetzten Sabottageversuchen der alten Eliten wenigstens in starken Ansätzen der Fall zu sein scheint, nachdem sich die Unerträglichkeit neoliberalen Wirtschaftens durch den caracazo in Plünderungen, Zerstörung und sichtbarer, blutiger Unterdrückung Luft machte und daraufhin ein paar Tausend beherzte Militärs das Volk nicht länger im Zaum halten wollten, sondern die Seiten wechselten, an der Machtübernahme zwar scheiterten, aber den Weg bereiteten für eine friedliche, demokratische Revolution.
Am 12. Juni 2008 um 04:26 Uhr
Glueckwunsch!
Endlich mal ein vernuenftiger Artikel ueber Chavez und Venezuela.
Ich kenne Venezuela seit 1974 und lebe jetzt hier (Lara).
Auch wenn El Comandante manchmal zu viel und zu lange redet, ist es die Oligarchie, die alles versucht um die boliverianische Revolution zu verhindern.
Gut recherchierter Artikel.
Danke
Gert