Das Abstrakte ist konkret …
Anscheinend ist die Gewohnheit, von einer Fotografie zu erwarten, dass sie auf etwas Anderes, Gegenständliches verweist, heutzutage fast übermächtig. „Die Leute wollen eben etwas sehen”, lautete die entschuldigende Antwort auf eine meiner häufigen Klagen über die Abwesenheit von selbst-referenzieller Fotografie bei einer großen Foto-Ausstellung.
Selbstverständlich will man etwas sehen, wenn man ein Bild betrachtet. Es fragt sich nur, warum eine ungegenständliche Fotografie den Eindruck machen könnte, es gäbe nichts zu sehen. Vermutlich behindert die nicht sehr weit gefasste Meinung, was sich denn überhaupt zu sehen lohne; man sieht dann nur das Immergleiche:
Eindrucksvolle Fotografien habe er keine gefunden, nur Muster, Linien und Flecken, rezensierte ein Amazon-Käufer ein Fotobuch, das sich zur Aufgabe gestellt hat, Sehen zu lehren. Mir scheint, in so einem Fall sucht man in sich einen bereits fertigen Eindruck, in den dann ein soeben gesehenes Bild zu passen hat, andernfalls ist es eben „nicht eindrucksvoll”. Dass durch die bloß einmalige Ansicht einer Szene oder eines Bildes ein neuer Eindruck entstehen könne, ist anscheinend nicht mehr gegeben. Zu sehr ist die innere Landschaft bereits „eingedrückt”, die Aufnahmefähigkeit ausgeschöpft, das Bewusstsein formatiert. Das ist nicht verwunderlich, wenn man zu oft ungeschützt der banalen Tristesse der marktwirtschaftlichen Propaganda ausgesetzt wird. So stark verbildet, können nur mehr Bilder, die in die Stanzen der zahllos eingehämmerten Wiederholungen passen, als relevant wahrgenommen werden. Wie sonst könnte man angesichts einer Fotografie sagen, es gäbe darauf „nichts” zu sehen?
Wie lerne ich nun (wieder) zu sehen, offen zu werden für Neues, Ungewohntes, Unbekanntes? – Abgesehen vom Willen das Wahrnehmungsfeld zu erweitern, kann längeres Fasten eine gewisse Empfänglichkeit wieder herstellen, nämlich ein Bilder-Fasten, Film-Fasten, Fernseh-Fasten und natürlich vor allem ein Werbungs-Fasten. Wie schwer aber ist vor allem letzteres für einen Stadtmenschen, der tagaus, tagein beworben wird, so bald er auch nur auf die Straße tritt oder seinen Briefkasten leert! –
„Das ist keine Pfeife” schrieb René Magritte auf sein Gemälde „Der Verrat der Bilder”. Irritierend für jemanden, der ständig wissen will, was dieses oder jenes darstelle oder bedeute, um mit Hilfe dieser später schon bekannten Erklärungen zu verstehen, was er dann sehen wird. Er kann auf diese Weise allerdings nach und nach durch die Autorität, die er den unzähligen früheren Beschreibungen verleiht, seiner gegenwärtigen Empfindung gar nicht mehr trauen. Selbst wenn er mit seinem Wissenwollen aufhörte, werden ihm Erklärungen tagtäglich auch ungefragt aufgedrängt, vorgeblich damit er „informiert”, in Wahrheit aber eher uniformiert ist. –
„Was ist denn das?” lautet die häufigste Reaktion auf eine abstrakte Fotografie, die ich erlebe. Was soll man darauf antworten, ohne das Bild zu beleidigen? Es stellt nichts dar; was also könnte es sein, wenn nicht das, was es ist? Ein abstraktes Bild solle wie ein Blumenbeet sein, über dessen Bedeutung sich glücklicherweise niemand den Kopf zerbreche, meinte einst Jackson Pollock.
Wer das so genannte Abstrakte nicht einigermaßen unvoreingenommen betrachten kann, kann Konkretem ebenfalls nicht gerecht werden, denn der Übergang von einem zum anderen ist fließend. Wer zu bereitwillig das Wahrnehmen des Symbols mit dem Erlebnis des Symbolisierten gleichsetzt, der bezieht sich leicht ebenso zu sehr auf alte Eindrücke und vernachlässigt die Gegenwart. Beides, Symbol und Symbolisiertes, Gegenwart und Erinnerung, „ist [zwar] unterschiedliche Manifestation ein und derselben Energie oder ein und desselben Geistes” (Susan Sontag über Wahrnehmung von Fotografien in „primitiven Gesellschaften”; ich meine, das gilt allgemein für Symbole und zwar in jeder Gesellschaft), und man darf das auch nicht übersehen. Aber zu negieren, dass es sich um unterschiedliche Verkörperungen handelt, ist verhängnisvoll. Das Verständnis ist dann vorherbestimmt und abgestanden, oft genug tatsächlich unpassend und irreleitend für die aktuelle Wahrnehmung. So hat man Augen, die nicht sehen, einen Verstand, der nicht versteht, und ein Bedürfnis nach Fachleuten, die einem erklären, was und wie man richtig wahrzunehmen hat.
… das Konkrete ist abstrakt. (Prag, Hauptbahnhof)
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