< Henri Cartier-Bresson: INDIEN. Kaschmir. Srinagar. 1948. Muslimische Frauen auf den Hängen des Hari Parbal-Hügels beim Beten zur hinter dem Himalaya aufgehenden Sonne.
Ich muss gestehen: Ich fange nicht besonders viel mit ihm an. Das heißt: Ihn kannte ich nicht, ich weiß nicht, ob ich ihn gemocht hätte, aber seine Fotos, die mag ich nicht so recht, jedenfalls bei weitem nicht so sehr, wie es mir die übliche Rezeption nahelegen will. (Was durchaus gegen mich sprechen mag.)
Seine Bilder sind zweifellos gute Pressefotos, das hier oben links gezeigte sogar ein hervorragendes, und ich wäre froh, wenn sie den heutigen Standard vorgeben würden, aber sie ergreifen mich wenig und bleiben mir fremd. Sie haben keine dauerhafte Wirkung auf mich. Ich kann mich an keines seiner erst vor ein paar Tagen im Wiener Kunsthaus 1) gesehenen Bilder erinnern, das mich annähernd so berührt und meinen Glauben an die Kraft der Fotografie so gestärkt hätte wie manche Exponate der Heinrich Kühn-Austellung der Wiener Albertina. Politisch gesehen ist mir sicherlich Henri Cartier-Bresson bei weitem näher, aber seine hochgelobte Art zu fotografieren lässt mich ziemlich kalt.
Ja, manches Bild ist komisch, manches gut gesehen, aber wenn von den wunderbaren Bildkompositionen HCB’s die Rede ist, dann wundere ich mich eher: Man kann von Schnappschüssen nicht viel erwarten, aber oft erscheint eine Komposition überhaupt nicht vorhanden zu sein. Und dem einen oder anderen Bild hätte ein nachträglicher Beschnitt wirklich gut getan.
(Fotos mussten leider nach Ende der Ausstellung entfernt werden)
Ich glaube nicht an die abstrakte Fotografie. Das wäre akademisch.
(Henri Cartier-Bresson, sinngemäß)
Dieses Zitat aus einem Interview, das ich hoffentlich korrekt erinnere, war mir Anlass, meine Gedanken zu diesem Thema wieder einmal gleich an Ort und Stelle nieder zu schreiben:
Ich für meinen Teil glaube nicht an die dokumentarische Fotografie. Das wäre naiv. Fotografie kann – wie andere Medien auch – Wirklichkeit nicht dokumentieren. Sie ist Wirklichkeit. Sie zeigt nicht, was „tatsächlich” gewesen ist, sondern das, was Fotograf*innen gesehen, mittels ihrer Kamera und ihren Fähigkeiten aufgenommen und schließlich durch die Ausarbeitung daraus gemacht haben. Und dann wirkt das Bild auf den Betrachter – mehr oder weniger. Es gibt keine dokumentarische Fotografie im Sinne beweisträchtigen Materials.
Was es gibt, ist der Ausdruck eines sehenden Menschen. Interpretation, nicht Repräsentation. Mir sind Fotografie und Motiv so wie „in primitiven Gesellschaften […] nichts anderes als zwei verschiedene, das heißt physisch unterschiedliche Manifestationen ein und derselben Energie oder ein und desselben Geistes.” 2) Und „Energie” oder „Geist”, was immer man darunter verstehen mag, kann auch nicht-optisch wahrgenommen werden, was bedeutet, man muss sie nicht sehen um sie zu fotografieren. Man braucht nicht den Anlass eines Motivs; Fotografie kann direkt ein Ausdruck von Wahrnehmung sein, Wahrnehmung selbst aus anderer Zeit und anderem Ort.
Nun ja, das kann man auch anders sehen und fotografieren, aber mir muss es dann auch nicht gefallen. Vielleicht wäre ich ohne die Lobeshymnen auf den „weltberühmten Fotografen”, den „Altmeister der europäischen Fotografie”, den „Meister des entscheidenden Augenblicks” unbelasteter und offener gewesen und hätte mehr Gefallen an HCB’s Bildern gefunden, aber so …
… so verweise ich lieber auf Vivian Maier, die ganz unbeachtet ihrer Fotografie nachging und für mich interessanter ist. Ob sie an dokumentarische Fotografie geglaubt hat? – Sie hat jedenfalls hervorragende Fotos gemacht.
1) „Henri Cartier-Bresson. Der Kompass im Auge: Amerika – Indien – Sowjetunion” im Kunsthaus Wien noch bis 26. Februar ’12. ↑
2) Susan Sontag, in „Die Bilderwelt” in „Über Fotografie” ↑
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